Lauf des Lebens
Autobiografisch
Erinnerungen pflegen ein Eigenleben zu führen. Sie machen glücklich oder plötzlich tieftraurig. Man kann in ihnen schwelgen oder sich ängstigen und dabei das Heute aus den Augen verlieren. Man sollte ihnen immer gut vorbereitet begegnen, weiß man doch nie, welche Wege sie einschlagen, wenn man sich auf sie einlässt. Ich lebe gerne in der Gegenwart, wohl wissend, dass das Heute morgen schon Erinnerung sein wird. Sie erlaubt mir zu gestalten, Neues zu entdecken, die Richtung vorzugeben. Erinnerungen dagegen sind Geschehnisse der Vergangenheit, auf die ich keinen Einfluss mehr habe. Sie können mich zu Tränen rühren oder ein breites Lachen in mein Gesicht zaubern. Dieses Wissen lässt mich vorsichtig sein. Ihre Gesellschaft suche ich nur dann, wenn ich mich stark fühle. Doch manchmal suchen und finden sie mich – unvorbereitet. Und dann bohren oder kitzeln sie, rufen Erdbeben hervor oder tragen mich auf einer Woge der Glückseligkeit davon.
Mein Lebensbuch hat schon viele Kapitel und ist reich bebildert. Und wenn ich darin blättere, frage ich mich, wie die Zeit – nahezu unbemerkt – so schnell vergehen konnte. Die Jahre reihen sich aneinander wie Perlen einer bunt schillernden Kette. Gerade noch war ich ein Kind mit Sommersprossen im Gesicht und Flausen im Kopf. Mal ein Wildfang voller Lebensfreude, mal störrisch und verschlossen. Einen Wimpernschlag später bin ich eine junge Frau mit Schmetterlingen im Bauch und erfüllt von der Vorfreude auf ein neues, eigenständiges Leben. Dann halte ich sprachlos und staunend zum ersten Mal meine Kinder im Arm. Kann mich nicht sattsehen an den winzigen Händen und Füßen. Denke an die schlaflosen Nächte, wenn sie hungrig oder krank waren. An die ersten Worte, die ersten tapsigen Schritte und das Staunen in ihren großen Augen. Und schon sind sie erwachsen, denken sie kennen das Leben und ich muss sie loslassen, damit sie ihren eigenen Weg finden.
Dann und wann schließe ich die Augen und gehe durch meine große Gedankenhalle. Sehe auf die vielen aneinandergereihten Türen, hinter denen sich die Erinnerungen von Jahrzehnten verbergen. Es gibt die dunklen, wuchtigen Türen, voller Schrammen und Risse. Sie wirken bedrohlich und unüberwindbar. Gerne würde ich sie ignorieren, weitläufig umgehen. Es gelingt mir nur selten. Ihr Anblick zwingt mich, nachzudenken. Und mir wird bewusst: Ich bin, was ich bin auch wegen dieser Türen.
Behutsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Ab und zu bleibe ich stehen, grübele. Vor manchen Türen überkommt mich große Traurigkeit. Dahinter verstecken sich Alleingelassen sein, Nichtbeachtung, Lieblosigkeit; dort werden Fantasie und Neugierde von erhobenen Zeigefingern gefangen gehalten und warten auf Befreiung. Doch es gibt auch die filigranen, bunten Türen; makellos und schön. Sie erzählen von der Leichtigkeit des Seins. Dort wohnen Freude und Unbeschwertheit.
Hastig gehe ich weiter. Suche die Türen, hinter denen lautes Kinderlachen erschallt, der Strahl warmer Sommertage durch die Ritzen quillt, der Duft einer Frühlingswiese meine Nase kitzelt. Wo der blaue Himmel mit riesigen Wolkenschiffen wartet, die langsam vorübersegeln, während ich auf dem Rücken im tiefen Gras liege und mir überlege, woher sie kommen und wohin sie gehen und davon träume, es ihnen gleichzutun. Dort finde ich den Geschmack vollreifer Erdbeeren, ihren klebrigen, süßen Saft, der aus meinen Mundwinkeln fließt und mir das Kinn verklebt. Berühre die raue Rinde des Baumes, die beim Klettern die Haut abschürft. Rieche die ersten Regentropfen auf staubiger Erde und fühle Angst vor dem Donnergrollen. Spüre die Kälte eines Wintertages und das Glücksgefühl, wenn wir endlich mit dem Schlitten den Hügel hinab saußen konnten und uns anschließend ausgelassen im Schnee wälzten. Die Vorfreude beim Warten auf das Christkind und der harzige Geruch des Weihnachtsbaumes sind auf einmal wieder greifbar nah.
Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Aufgeregt suche ich nach den Türen, hinter denen ich die Sehnsucht und die Träume vermute. Was ist aus ihnen geworden? Gibt es sie noch? Bei meiner Suche nach ihnen fehlt mir manchmal die Luft, noch einen Schritt schneller zu gehen; nachzuholen, aufzuholen – was immer möglich ist. Doch die Suche hat immer auch etwas Tröstliches. Denn solange man noch Träume hat und ihre Erfüllung herbeisehnt, lebt man.
Noch einmal lasse ich meine Blicke schweifen, dann verlasse ich mit dieser versöhnlichen Feststellung meine Gedankenhalle; verwahre den Schlüssel an einem sicheren Ort auf. Ich gehe hinaus in die Sonne, setze mich auf die Bank unter den großen Baum, lausche dem Gesang der Amsel, dem Geplätscher des Wassers. Bewundere die Farbenpracht der Libellen, die flirrend in der Luft stehen. Atme den Duft des Sommers. Bin wieder im Hier und Jetzt und ganz bei mir.
chrilie ©