Leseprobe aus Wolken über Heather’s Point
Prolog
Dublin 1963
Carl Hackett rannte die St. John’s Road entlang, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Sein Trenchcoat blähte sich an seinem Rücken auf und die Enden des Schals flatterten um seinen Hals, wie die Wimpel eines der Boote auf dem River Liffey. Die Abgase der Busse und Autos, die an ihm vorbeirumpelten, vermengten sich mit dem Gestank unzähliger Kohleöfen zu einem beißenden Gemisch, das ihm und seinen Mitmenschen zunehmend das Atmen schwer machte. Seit Tagen hofften sie darauf, eine kräftige Brise würde den ganzen Dreck endlich wegpusten, doch vom nahen Meer kam kein Windhauch herüber. Nur der brackige Geruch und das Kreischen der Möwen ließ es erahnen.
Sein Herz pochte, er schwitzte vor Anstrengung; in der knochigen Kuhle an seinem Hals sammelte sich der Schweiß. Fluchend wich er der Hinterlassenschaft eines der zahlreichen Straßenköter aus und kollidierte dabei um ein Haar mit dem Karren eines Kohlehändlers. Dann sah er endlich sein Ziel vor sich. Als er um die Ecke des Bahnhofs bog, zeigte die Turmuhr über dem Portal 18:57 Uhr. Seine Hand schnellte vor und stieß die schwere Eingangstür auf. Wie immer um diese Uhrzeit war die Halle voller Menschen. Rücksichtslos rempelte er sich den Weg frei. Jetzt noch die Treppe hinunter zum Bahnsteig, dann hätte er es wieder einmal geschafft. Nach leidvollen Erfahrungen wusste er, der Neunzehn-Uhr-Zug würde keine Sekunde auf ihn warten. Um dem Güterzug nahe Luncan nicht in die Quere zu kommen, musste er pünktlich auf die Minute den Bahnhof verlassen. Just in dem Moment, als der Schaffner den Arm mit der Kelle hob und die Trillerpfeife an die Lippen setzte, sprang Carl Hackett mit letzter Kraft in den nächstbesten Waggon. Die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloss, ein schriller Pfiff ertönte und mit einem Ruck, der ihn fast von den Beinen riss, setzte sich der Zug in Bewegung.
Dichter Nebel hing an diesem ungemütlichen Freitagabend im November über dem Land, als der überfüllte Pendlerzug den Bahnhof Heuston verließ. Selbst die Lichter Dublins konnten die grauen Schwaden kaum durchdringen. Die gesamte Gegend erschien seit Tagen wie in Watte gepackt.
Völlig außer Atem drückte er sich in die Ecke des mühsam ergatterten Sitzplatzes und schloss erschöpft die Augen. Doch die erhoffte Entspannung wollte sich nicht einstellen. Wie eine bedrohliche Gewitterfront drückten die Ereignisse des Tages auf seine Stimmung. Die letzten Stunden gingen ihm durch den Kopf und holten die Angst zurück, die er empfand, als sein Vorgesetzter ihnen den Revisor für die kommende Woche angekündigt hatte. Warum hatte er sich auf das schmutzige Spiel dieses kleinen Scheißers Brian eingelassen? Seit dieser Schnüffler von der Irish Times seine Nase in ihre Geschäfte gesteckt und sie mit unangenehmen Fragen bombardiert hatte, suchte er nach einem Ausweg aus dem Schlamassel. Nun stand eine Kontrolle ins Haus. Er war geliefert. Die Summen, mit denen sie über Monate gezockt hatten, konnten auf Dauer nicht unentdeckt bleiben.
Was für ein Tag! In Texas hatte ein Verrückter John F. Kennedy erschossen und am Montag würden sie ihm das Fell über die Ohren ziehen und er konnte nichts dagegen tun. Aus der Traum von einem besseren Leben, einem kleinen Stück Glück für seine Frau und ihn. (…)
Christa Lieb ©
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