»Wolken über Heather’s Point«
Leseprobe
(…) In den nächsten Tagen vergaß sie alle Fragen, Vermutungen und Zweifel. Sie war in einer wundersamen, fremden Welt, in der an sonnigen Tagen Weiß und Blau die märchenhafte Kulisse dominierten. Wenn sich aber der Himmel zuzog und Sturm aufkam und sich die Idylle in eine eisige, lebensfeindliche Hölle verwandelte, lernte sie auch die andere Seite dieser Welt kennen. Dann rüttelte der brüllende Sturm am Schiff; ließ es auf den meterhohen Wellen tanzen wie eine Nussschale. Mit bangem Blick auf das aufgewühlte Meer hoffte Olivia in solchen Momenten auf eine baldige Beruhigung dieser Urgewalten. Eines würde sie wohl nicht vergessen: Die Sonnenuntergänge. Wenn die glühende Sonne am Horizont wie ein feuriger Ball auf dem Meer zu liegen schien und ihr strahlendes Orange Eisberge, Treibeis und die Wasseroberfläche wie in kostbares Gold gehüllt aussehen ließ.
***
Obwohl ein bitterkalter Wind an ihrer Kleidung zerrte und ihre Finger inzwischen klamm und unbeweglich waren, stand Olivia an der Reling und schaute auf das Naturschauspiel vor ihren Augen. Unzählige dicke Eisschollen schwammen ringsum, schoben sich knirschend aneinander vorbei, tauchten gurgelnd hinunter in unergründliche Wassertiefen. In sicherem Abstand passierten sie majestätische Eisberge, die von den Strahlen der kaum noch über den Horizont lugenden Sonne in atemberaubende, leuchtende Skulpturen verwandelt wurden. Seit Langem fühlte sie wieder einen Hauch von innerem Frieden.
Bertolt Brahms beobachtete seine Tochter schon eine Weile und fragte sich, was in ihrem Kopf wohl gerade vor sich gehen mochte. Mit der lebensfrohen Olivia, die er kannte, hatte diese traurige junge Frau, die seit einer Stunde hinaus aufs Meer starrte, wenig zu tun. Er ging zu ihr hin und legte einen Arm um sie. »Ist dir nicht kalt? Du bist schon ziemlich lange hier draußen.«
»Es ist wunderschön hier. Danke, dass ich mitkommen durfte.«
»Ja. Wunderschön. Aber wie lange noch?«
»Du meinst …?«
»Alle diese wunderbaren Kolosse sind dem Untergang geweiht, wenn wir nicht endlich umdenken.«
»Es sieht nicht so aus, als würden sie von heute auf morgen verschwinden.«
»Nein. Aber es wird schneller gehen, als wir uns vorstellen können. Es gibt schon jetzt Passagen, die selbst im Winter nicht mehr zufrieren. Lass uns hineingehen. Ingvar hat Kuchen gebacken.«
»Er sieht aus wie ein alter Pirat. Aber kochen kann er.« Olivia warf einen letzten Blick auf das Meer und die eisige Kulissse, ehe sie ihrem Vater folgte. (…)
Christa Lieb ©
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