Leseprobe »Wolken über Heather’s Point«
Olivia Brahms’ Leben nahm eine ungeahnte Wendung, als Cornelius Fichte sie ausdrücklich bat, sich um Mister Franklin zu kümmern.
Sie war spät dran, an diesem milden Montagmorgen Anfang August. Die halbe Nacht hatte sie auf dem Sofa verbracht, weil sie sich nicht von ihrem Buch trennen konnte. Und so war ihr das Aufstehen schwergefallen. Allerdings half ihr das sonnige Wetter über die Müdigkeit hinweg und auch von den mürrischen Gesichtern um sich herum ließ sie sich ihre gute Laune nicht vermiesen.
Zelebrierten die Leute den Mythos vom ungeliebten Montag oder trauerten sie einfach nur vergangenen schönen Momenten nach?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal. Der mürrische Trambahnfahrer, die balgenden Kids, die sie auf dem Bahnsteig fast von den Beinen holten, die offensichtlich gestresste Mutter, die ihre kleine Tochter ungeduldig hinter sich her zog und jetzt, am Ende ihres morgendlichen Weges, das Duell zweier lifegestylter Jungmanager, die sich um die letzte freie Parklücke rangelten, registrierte sie mit gelassenem Schulterzucken. Ob sie sich noch vor dem Feierabend einigen werden?, überlegte Olivia belustigt, öffnete mit Schwung die Eingangstür des Bürogebäudes und steuerte auf die Fahrstühle in der Ecke zu. Das rhythmische Stakkato ihrer hohen Absätze hallte von den Wänden wider.
»Liebe macht krank, verursacht Geschwüre und Krämpfe, die niemals vergehn. Wenn sie dich trifft, dann wirst du’s kapieren: Liebe macht krank, Liebe tut weh …« Schmunzelnd zog sie die Stöpsel aus ihren Ohren und schaltete ihr Smartphone aus. Typisch Maman, dieses Lied, dachte sie amüsiert.
Auf der Fahrt in die zwanzigste Etage zog sie den Rock ihres Kostüms zurecht und fuhr sich mit dem Lippenstift über den Mund. Ein letztes Zupfen an ihren kurzen, blonden Haaren. Jetzt war sie zufrieden. Der Arbeitstag konnte beginnen. (…)
(…) Doktor Cornelius Fichte prangte an der Tür, an die sie wenig später klopfte.
»Guten Morgen, Frau Brahms, ich hoffe, Sie hatten ein erholsames Wochenende. Sie wissen ja, ab morgen wird es turbulent. Unser erster Termin mit Mister Franklin ist für den frühen Nachmittag geplant. Er räusperte sich. »Frau Brahms, ich habe eine besondere Bitte an Sie.«
Olivia sah ihn überrascht an. »Besondere Bitte?«
»Das Essen heute Abend … Könnten Sie diesen Termin bitte für mich wahrnehmen?«
»Ich? Sie meinen, ich soll heute Abend mit Mister Franklin …«
»Ja. Sie.«
»Aber …«
»Frau Brahms, ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie für mich in die Presche springen würden. Terminüberschneidungen … Meine Frau … Sie wissen ja, wie das ist.« (…)
Christa Lieb ©
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