Auszug »Wohin dein Weg auch führt«
(…)
Ulrich hatte geglaubt, er kenne das Gefühl des Alleinseins schon zu genüge. Er hatte sich geirrt. Diese Tage jetzt, übertrafen selbst die dunklen Stunden in Straubing.
Niemanden hielt es in seiner Kabine. Alle trafen sich in der Mannschaftsmesse zu Punsch und Teegebäck. Er suchte sich einen Platz in der hintersten Ecke, bei den Männern aus Ostasien, denen Weihnachten wenig bedeutet. Vorn drängten sich mit erwartungsvoll glänzenden, oft aber auch traurigen Augen, die deutschen Kollegen, meist Offiziere, um den Rundfunkempfänger. Der Kapitän hielt eine kurze Ansprache, dankte allen für ihren harten Einsatz auf hoher See. Dann ertönte das bekannte Signal von Radio Norddeich: »Gruß an Bord« ging auf Sendung.
Angespannt lauschte er eine Weile den Stimmen aufgeregter Kinder und gerührter Frauen, die ihre Väter, Ehemänner, Söhne grüßten, gute und manchmal auch schlechte Nachrichten aus dem fernen Deutschland durch den Äther auf den schwankenden Frachter schickten, der sich gerade durch den nachtschwarzen Atlantik schob.
Die bunten Lämpchen des Plastikbaumes flimmerten unruhig. Ihr Licht spiegelte sich in den wenigen Kugeln, die die spärlichen Zweige schmückten, wider. Der Smutje lehnte in der Luke der Essensausgabe und summte andächtig die Melodie von der stillen, heiligen Nacht mit.
Längst hatte Ulrich innerlich abgeschaltet. Für ihn gab es keinen Grund, aufmerksam zu lauschen, auf liebe Grüße zu hoffen. Wer sollte ihn schon grüßen? Niemand vermutete ihn an Bord eines Schiffes auf unruhiger See. Er war allein; wieder und immer noch. Und er war überzeugt, dass dies auch noch lange so bleiben würde. Die Gewissheit schmerzte. Gern wäre er dieses Gefühl losgeworden, doch es ließ sich nicht einfach so vertreiben. Betroffen zuckte seine Hand hinauf zum Gesicht, um die Tränen wegzuwischen, die sich unkontrolliert aus seinen Augenwinkeln gemogelt hatten. Verstohlen sah er sich um, doch offensichtlich hatte niemand Notiz von seiner Rührseligkeit genommen.
Mit geschlossenen Augen versuchte er sich vorzustellen, wie es jetzt auf der Rosenhöhe zuging. Er stellte sich Tilda und Klara in der warmen Stube vor, wie sie am Tisch beisammensaßen, Tee tranken und selbst gebackene Plätzchen knabberten. Tasso lag sicher zusammengerollt vor dem Christbaum, der Kater neben dem Ofen, in dem das Holz leise knackend ein Raub der Flammen wurde. Ob die beiden Frauen an ihn dachten, über ihn redeten? Er wünschte ihnen im Stillen eine friedvolle Weihnacht und hoffte, dass sie sich keine Sorgen um ihn machten.
Wie gerne wäre er dort; bei ihnen. Stattdessen verbrachte er das Weihnachtsfest auf diesem schaukelnden Kahn unter fremden Leuten und ohne Perspektive. (…)
Christa Lieb ©
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