Ein anderes Leben – Teil 1
Immer wenn sich seine Mutter abends vor dem Fernseher im Sessel zurücklehnt, wartet er geduldig bis ihr Kopf sachte nach hinten fällt, ihr verkniffener Mund sich entspannt und ihm ein leises Röcheln entweicht. Dann schleicht er in sein Zimmer, dreht bedächtig den Schlüssel um und holt aus dem hintersten Winkel der Kommode einen zerfledderten Playboy mit den nackten Träumen seiner Fantasie.
Er scheint nicht wahrzunehmen, dass seine besten Jahre ohne nennenswerte Ereignisse an ihm vorübergehen. Nur zwei Dinge sind ihm wichtig: Sobald die Tage wärmer werden, läuft er zweimal die Woche nach der Arbeit schnurstracks zum Biergarten am Fluss. Dort, unter dem Blätterdach einer alten Kastanie, mit Blick auf das träge dahin fließende Wasser, sitzt er immer genau eine Stunde, lauscht andächtig den umherschwirrenden Geräuschen und manchmal packt ihn dabei eine unerklärliche, fast schmerzhafte Sehnsucht nach einem anderen Leben. Dennoch weicht er nicht von den eingefahrenen Bahnen ab. Sobald die Kirchturmuhr unüberhörbar neunzehn Uhr schlägt, steht er auf und trottet durch die schmalen Gassen, über den kleinen Marktplatz, am Rathaus vorbei, zurück in sein enges Einerlei, in dem seine Mutter mit dem Abendbrot wartet.
Und jeden Mittwochabend übt er das Posaune spielen in St. Hildegard. Wenn er nach dem abgewetzten Lederkoffer mit dem Instrument greift, blüht er auf. Dann fällt die Langsamkeit von ihm ab, wirken seine Schritte nahezu federleicht. Er und seine Posaune werden gebraucht. Die Mitspieler bewundern seine Fingerfertigkeit und seinen langen Atem. Ehe er das Instrument aus dem Koffer nimmt, streicht er liebevoll über das kühle, glänzende Metall. Dann setzt er behutsam das Mundstück ein und schon während er es Richtung Mund führt, blähen sich seine Wangen erwartungsvoll auf. Geschickt bewegen seine Hände den Zug und satte, klare Töne erfüllen das Kirchenschiff. Haiko vergisst die Zeit und alles um sich herum.
Sobald der Dirigent den Stock aus der Hand legt, spürt er Enttäuschung – wie immer. Und wie immer schüttelt er beharrlich den Kopf, wenn Konrad – einer der es gut mit ihm meint – ihn nach der Übungsstunde zu einem kühlen Pils überreden will.
Diesmal lässt der sich nicht abwimmeln. Ihm platzt der Kragen und er sagt Dinge, die ihm schon lange auf der Zunge liegen: »Du bist total bescheuert. Sieh dich an. Sitzt mit Vierzig noch immer zu Hause in deinem Kinderzimmer, bei all den Plüschtieren und Blechautos deiner Kindheit. Lässt dich von deiner einsamen Mutter schikanieren. Tu etwas! Such dir eine Frau. Dann ist Schluss mit den freudlosen Abenden vor der Flimmerkiste. Schluss mit dem sonntäglichen, trockenen Schweinebraten. Reiß dich endlich zusammen!«
Haiko hört sich die ungewohnte Rede an, zuckt nur mit den Schultern, packt seinen Posaunenkoffer und verlässt St. Hildegard, ohne ein Wort zu verlieren.
»Mach doch was du willst«, ruft Konrad ihm resigniert hinterher. (…)
Fortsetzung folgt …
Christa Lieb ©