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Christa Lieb – Autorin

»Bitterblues« – Leseprobe

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Sie durchquerte die Ebene und fuhr den Hügeln entgegen. Noch redete Ruth sich ein, sie mache einen kurzweiligen Ausflug aufs Land. Die Augen hinter den dunklen Gläsern einer großen Sonnenbrille verborgen, die Haare lässig mit einer Spange am Hinterkopf fixiert, klopfte sie mit den Fingern verhalten den Rhythmus der Musik mit. Auf den zurückliegenden fünfzig Kilometern hatte sie sich lautstark von ihr begleiten lassen. Doch jetzt, das Ziel in greifbarer Nähe, überbot das mulmige Gefühl die Leichtigkeit der Töne. Sie drückte den Aus-Knopf; Mick Jaggers It’s only Rock ‘n’ Roll … But I like it verstummte schlagartig.

***

Mit jedem weiteren Meter vorwärts, wuchs ihre Aufgeregtheit. Sie öffnete das Seiten-fenster, ließ frische Luft ins Wageninnere strömen und atmete sie gierig ein. Kühl und frisch. Nicht stickig, wie sie es in den letzten Wochen in der Stadt erlebt hatte.

Wenig später lenkte sie ihr Auto aufmerksam die schmale, kurvenreiche Straße den Berg hinauf. Nach der langen Geraden noch eine scharfe Rechtskurve, dann blieb der lichte Laubwald zurück und gab den Blick auf die Anhöhen ihrer Kindheit frei. In der Ferne duckten sich kleine Dörfer in grüne Täler; andere schmiegten sich an sanfte Hänge.

Sie drosselte das Tempo und hielt Ausschau nach einer Haltemöglichkeit. Kurz darauf verließ sie die schmale Straße und bog in einen holprigen Feldweg ein. Nach wenigen Metern hielt sie an und stieg aus. Jetzt lag das Ziel zu ihren Füßen. Überrascht sah sie hinab auf das Häusergewirr und die dunklen Asphaltbänder, die sich zwischen den Häuserfronten hindurchschlängelten. Ohne Frage, die Kleinstadt war gewachsen. Viele neue Häuser bedeckten jetzt ehemalige Orte ausgelassener Kinderspiele. Die Streuobstwiese mit den knorrigen Obstbäumen, an deren rauer Rinde sie sich beim Klettern die Haut aufgeschürft hatten, war grauen Betongebäuden ohne jeglichen Charme gewichen. Hier stopfte sich kein Kind mehr heimlich die Taschen mit saftigen Äpfeln und Birnen voll.

Was verband sie noch mit diesem Ort? Früher war ihr hier alles vertraut gewesen; doch das war lang her. Sie dachte an die verborgenen Ecken; ihre Treffpunkte nach der Schule. An ihre Aufgeregtheit beim ersten hastigen Zug an einem Joint, die ersten unbeholfenen Zärtlichkeiten, die ein merkwürdiges Ziehen in ihrem Unterleib ausgelöst hatten, das sie in der Nacht nicht schlafen ließ. Warum gingen ihr jetzt gerade diese Dinge durch den Kopf? Zum Glück war sie keine sechzehn mehr, sondern eine erwachsene Frau, die sich nicht mehr verstecken musste, wenn ihr der Sinn nach Zärtlichkeiten stand. Prompt beschlich sie die diffuse Ahnung, ihre Entscheidung, hierher zu kommen, sei nicht allzu klug gewesen. Vielleicht hätte sie das Haus einfach verkaufen sollen; ohne sich noch einmal mit den ganzen Erinnerungen zu konfrontieren. Schließlich gab es für solche Dinge Firmen mit passendem Gesamtpaket im Angebot: Entrümpeln, entsorgen, verkaufen. Was hatte sie also bewogen, sich wider besseres Wissen gegen diese bequeme Möglichkeit zu entscheiden? Die Frage war müßig. Jetzt war sie hier; es gab keine Ausflüchte mehr. Nur langsam sollte sie es angehen, nicht ungestüm, wie es oft ihre Art war.

Nachdenklich setzte sie sich auf die verwitterte Holzbank, die unter einem der stattlichen Walnussbäume stand. Diese Bank; so viele Erinnerungen. Sie strich mit den Fingern vorsichtig über die Unebenheiten der Sitzfläche und schloss die Augen. Sie spürte die wärmende Sonne auf ihrem Gesicht und zärtliche Lippen auf ihrem erwartungsvollen Mund. Bilder zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Gesichter von lieben Menschen. Jolanta; ihre beste Freundin in jenen Tagen. Sie erinnerte sich an frisch gebackenen Apfelkuchen und den prickelnden Geschmack von Himbeerbrause auf der Zunge. Immer samstags hatten sie bei Jolantas Großmutter in deren behaglicher Stube gesessen, den Geruch von Bohnerwachs in der Nase, und diese Köstlichkeiten genossen. Oft waren nach getaner Arbeit Nachbarn vorbeigekommen und dann war Jolantas Großmutter in einen seltsamen Dialekt verfallen, den sie kaum verstanden. Beim Gedanken daran, kamen ihr die wehmütigen Gespräche der Alten in den Sinn. Wenn die von der Sehnsucht nach Heimat erzählten, und daran, wie zart dabei ihre Stimmen und wie sanft ihre Gesichter geworden waren. Sie erinnerte sich an den feuchten Schimmer in deren Augen, wenn sie allem Anschein nach den Schmerz, den die Erinnerungen verursachten, kaum ertrugen. Diesen Schmerz hatte sie nie gefühlt. Vielleicht suchte er nur Menschen heim, die gehen müssen, die keine Wahl haben. Sie war der Enge freiwillig entflohen.

Und jetzt war sie wieder hier. (Ende Leseprobe)

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Christa Lieb ©

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Autor: Christa Lieb

 

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