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Christa Lieb – Autorin

Lesefrüchtchen

| 4 Kommentare

Foto chrilie

 Fluchtpunkt

Nahezu geräuschlos rollte der letzte Nachtzug davon. Bis auf einen einzelnen Mann war der Bahnsteig jetzt leer. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und blickte dem Zug, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden, hinterher.

Instinktiv wusste Claire, warum er dort stand und bereute, dass sie im letzten Moment wieder aus dem Waggon gesprungen war. Erstarrt presste sie ihren zitternden Körper an den kühlen Betonpfeiler, versteckte sich in dessen Schatten. Aus Furcht, das stürmische Pochen ihres Herzens könnte sie verraten, wagte sie kaum zu atmen. Angespannt fixierte sie die hagere Gestalt, die noch immer regungslos wenige Meter von ihr entfernt ausharrte. Die einzige Bewegung, die sie wahrnahm, waren die dünnen, weißen Rauchfahnen, die seinen Mund verließen. Die grausame Gewissheit, dass sie der Grund für seine Anwesenheit auf diesem zugigen, nur spärlich beleuchteten Bahnsteig war, verursachte ihr rasende Angst.

Hatte sie einen entscheidenen Fehler begangenen? Gab es jetzt wieder eine dieser schicksalhaften Wendungen in ihrem Leben?

Bevor sie ihr Elternhaus mit wenig Gepäck und vielen Träumen verließ, pflasterten etliche Brüche ihr junges Leben. Endlich frei sein, keine Streitereien und Vorschriften mehr, tun und lassen, wonach ihr der Sinn stand. Sie wähnte sich am Ziel, als für kurze Zeit der lebhafte Campus der Universität von Orlando ihr Lebensmittelpunkt wurde. Doch dann ging sie Enrico Alvez auf den smarten Leim. Von Heute auf Morgen ließ sie ihr Studium sausen und fand sich – ehe sie recht nachdenken konnte – im sonnigen Key West wieder. Eine fremde Welt voller Müßiggang, Cocktails am Pool und Sonnenschein rund ums Jahr reduzierte ihren gesunden Menschenverstand auf ein Minium. Aus der Studentin, die jeden Cent umdrehen musste, wurde das verwöhnte Spielzeug eines kubanischen Machos.

Doch bald kamen ihr Fallstricke in die Quere, ließen sie ungebremst aus einem heiteren Himmel unsanft hinab in die Abgründe der Illegalität stürzen. Vor Monaten hatte sie sich unsichtbar gemacht, in der Hoffnung, die Jäger würden die Beute nicht finden. Aber schon bald waren ihr deren Bluthunde gefährlich nahe gekommen. Bis heute hatte sie es immer rechtzeitig geschafft, Spuren zu verwischen, falsche Fährten zu legen. Wie lange würde ihr dieses riskante Katz- und Maus-Spiel noch gelingen? Ihre Kräfte schwanden; zu viel Energie ging bei der Flucht verloren. Doch sie konnte es sich nicht leisten, leichtsinnig zu sein. Ihre Empfangsantennen waren auf Misstrauen gepolt. Niemand sollte ihr zu nahe kommen und sich ihr Vertrauen erschleichen, um sie dann zu verraten.

Verrat. Dieses Wort war in ihrem Kopf eingebrannt. Ein Brandmal der besonderen Art. Einmal mehr hatte eine kleine Unachtsamkeit ihr Leben verändert. Eine offene Tür, wenige Wortfetzen und die Seifenblase platzte. Die ehrenwerten Herren in ihren teuren Maßanzügen und frisch gestärkten Hemden saßen beisammen, hielten Gericht über einen, der ihre dunklen Geschäfte nicht mehr mittragen wollte. Sie hörte die Fakten und dann war es zu spät für einen stillen Rückzug. Ein Spiegel an der falschen Wand stellte sie bloß und die Kälte in den Augen des Mannes, der sie am Morgen noch leidenschaftlich geliebt hatte, ließ sie erstarren. Mit einem Mal passten die Puzzleteile zusammen, bekamen die zahlreichen, unerklärlichen Dinge einen Namen und einen Sinn. Sie erkannte, dass sie sich in mörderischem Reichtum suhlte; ihre Kristall-Leuchter hatten blutigen Facetten. Plötzlich fühlte sie sich schmutzig, schämte sich für ihre Arglosigkeit. Eine Weile gelang es ihr noch, sich ahnungslos zu stellen, ihn zu täuschen. Eine unbedachte Bemerkung machte ihr jedoch klar: Ich muss verschwinden! Und so ließ sie alles zurück, was ihr lieb und teuer war, tauchte ab in eine fremde Welt in einem fremden Land. Unzählige Stationen, Nächte in stickigen Absteigen, in denen der Geruch von Armut, Dreck und Angst hing, säumten von nun ihren Weg. Und dann war da auch noch die große Sehnsucht nach ihrem Leben im Licht; nach den Spaziergängen durch die wohlgeordneten Räume, die sie einmal ihr Zuhause nannte. Zuhause. Wie bitterer Hohn klangen diese Worte heute in ihren Ohren. Dieses Gefühl kannte sie schon lange nicht mehr.

Claire verdrängte die Gedanken, versuchte, einen klaren Kopf zu behalten. Sie musste verschwinden, ehe der Scherge sie entdeckte. Hektisch ließ sie ihre Blicke schweifen, suchte nach einem Fluchtweg. Als ihre Augen zurück zu der Gestalt auf dem Bahnsteig wanderten, erschrak sie. Der Platz war leer, der Mann verschwunden. Ihre Alarmglocken begannen zu schrillen. Sie drehte sich um, wollte fliehen. Zu spät. Als sie  kühles Metall an ihrer Schläfe spürte, schloss sie ergeben die Augen.

Ein Schuss peitschte durch die Nacht, nahm ihr die unschuldige Stille. Ein schwarzer Schatten fiel schwer über sie, erstickte sie fast mit seinem Gewicht. Da begann sie zu schreien, bis ihre Lungen sich erschöpften. Grelles Licht schmerzte in ihren Augen, kräftige Hände packten zu und ein Mann sprach beruhigend auf sie ein: “Sergeant Cooper, Ma’am. Es ist vorbei.”

Und dann blickte sie in die starren, toten Augen von Enrico Alvez. Er hatte sie gefunden.

chrilie

 

Autor: Christa Lieb

 

4 Kommentare

  1. Krass. Aus User-sicht schicker Thriller-Style. Hatte schon ein bisschen Bourne-Feeling. Wäre die Geschichte länger, würde ich erwarten, dass sie Kampfkünste lernt, vlt. den Umgang mit Waffen und schließlich den Rachefeldzug startet – Hollywood Blockbuster.

    Beste Stelle: “Claire verdrängte die Gedanken, versuchte, einen klaren Kopf zu behalten.” Perfekte Verknüpfung der Retrospektive mit der aktuellen Situation.

  2. Gut!
    Wann denkst Du dir solche Sachen aus?

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